Auf dem Weg zu einer frauenbefreiten Gesellschaft ... Frauenkooperativen in Kurdistan

Frauenkooperativen in Kurdistan

Auf dem Weg zu einer frauenbefreiten Gesellschaft ...

S.Kreil und D. Wiegers
Kurdistan Report 148 / März – April 2010

Frauenkooperativen in Kurdistan haben sich aus der Frauenbewegung entwickelt. Sie sind Projekte von Frauen für Frauen und arbeiten auf allen Ebenen – sozial, ökonomisch, kulturell und politisch – und alle folgen demselben Ziel: die gesellschaftliche Rolle der Frauen grundlegend zu verändern.
Es gibt in Kurdistan verschiedenste Frauenprojekte die zur Frauenbewegung gehören. Dazu zählen Vereine, Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsprojekte, Beratungs-, Kultur- und Begegnungszentren. Diese Reportage befasst sich mit Einrichtungen, die sich selbst als Frauenkooperativen bezeichnen. Es gibt zurzeit sechs Projekte in den Städten Wan (Van), Nisêbîn (Nusaybin), Amed (Diyarbakır), Qoser (Kızıltepe), Riha (Urfa) und Bazîd (Doğubeyazıt).
Die Ziele und Arbeitsweise dieser Frauenkooperativen entsprechen nicht der Definition von Kooperativen im Sinne eines kollektiv geführten Betriebes, sondern haben im nachfolgenden Text beschriebene, darüber hinausgehende Ziele.
Wir stellen den politischen Ansatz vor, die Projekte einer Kooperative am Beispiel der Vanda Boştaniçi Kadın Kooperatifi in Wan und das Frauenrestaurant Firavîn (kurmanci; Mittagessen) in Amed, das sich aus einer Kooperative heraus entwickelt hat.

... schauen wir auf die Landkarte der Frauenkooperativen

Welchen politischen Ansatz, welche Ziele und welche Aufgaben haben Frauenkooperativen in Kurdistan?
Von dem Standpunkt aus, dass eine freie Gesellschaft nur dann frei sein kann, wenn auch die Frau befreit ist, arbeiten die Kooperativen vor allem an der Stärkung und Befähigung der Frauen, das gesellschaftliche Leben frei und aktiv zu gestalten.
Dies ist sogleich eine soziale, aber noch viel mehr eine politische Aufgabe. Die Frauenkooperativen arbeiten mit jungen Frauen sowie mit Frauen, die bereits eine eigene Familie haben, mit dem Ziel, dass diese Frauen sich auf sozialem, kulturellem und politischem Gebiet ausdrücken können. Denn nur dann können sie ihre gesellschaftliche Rolle überwinden. Dieser Prozess verläuft langsam, Schritt für Schritt, ohne die Frauen zu überfordern oder sie zu drängen. An oberster Stelle stehen, den Bedürfnissen entsprechend, die ökonomische Unabhängigkeit, die Frauen aus ihren Wohnungen holen, und ihnen soziale und auch ökonomische Entfaltungsmöglichkeit, Allgemeinbildung und Raum für sich selbst zu bieten. Erst danach werden andere Bildungsbedürfnisse realisiert und an der Reflexion von Geschlechter- und kultureller Identität gearbeitet.
Um den Frauen außerhalb ihrer Wohnungen und Familien Freiraum zu bieten, ist es nötig, Arbeitsangebote zu schaffen. Dafür gibt es z. B. Job-Pools, in denen Frauen mit ihrem Können bei Bedarf für Arbeiten vermittelt werden, beispielsweise zur Kinderbetreuung. Sie können eigen gefertigte Produkte wie Näh- und Stickarbeiten verkaufen und es gibt entsprechende Bildungsangebote, die das Können der Frauen erweitern, ihre Fähigkeiten und ihr Selbstvertrauen stärken. Dazu gehören Allgemeinbildung wie Alphabetisierung und Schulabschlüsse ebenso wie berufliche Ausbildungen. Frauen müssen sich ernähren und eine eigene ökonomische Unabhängigkeit erreichen können.
Und Frauen brauchen einen Raum für sich selbst. Deshalb gehören auch soziale und kulturelle Aktivitäten wie Theater und Filmvorstellungen zum Programm der Kooperativen. Viele Frauen waren noch nie im Theater oder im Kino. Sie haben die Möglichkeiten nicht. Diese Aktivitäten sind Teil einer kulturellen Bildung, denn auch Kultur ist ein Raum, um sich auszudrücken und sich selbst zu entfalten.
Die ökonomischen, kulturellen und Ausbildungs-Angebote umfassen den größten Teil der praktischen Arbeit der Kooperativen und doch liegt ihr Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit, der Gesellschaft und der eigenen Rolle in ihr. Dieses Ziel begleitet die praktischen Angebote und wird über Bildungsseminare und den gemeinsamen Alltag realisiert.
Inhaltlich geht es vor allem um die Frage: „Wer bin ich?“ Es geht um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und der Rolle innerhalb der Gesellschaft. Es geht darum, sich mit sich selbst zu befassen, mit dem eigenen Körper, mit den sozialen Unterschieden zwischen Männern und Frauen und mit der Befreiung aus ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung.

Die Frauen sind gesellschaftlich unterdrückt
Der Staat unterdrückt, der Vater unterdrückt, die Brüder unterdrücken, der Freund unterdrückt – das ganze gesellschaftliche System unterdrückt die Frau. Und auch die Frauen unterdrücken. Sie haben das Denken vom Staat, vom System und vom Mann übernommen und reproduzieren es in ihrer Rolle als Mutter, als Tochter oder als Ehefrau. Sie denken selbst wie der Staat, wie der Mann und akzeptieren ihre gesellschaftliche Rolle als Normalität. In den sozialen und politischen Bildungsangeboten der Kooperativen geht es genau darum, sich mit diesen Themen zu befassen und die eigenen Schranken im Denken zu überwinden, damit eine Befreiung
möglich ist.
In der Bildung können sich die Frauen selbst kennenlernen, sie lernen, sich nicht mehr mit dem patriarchalen Herrschaftssystem zu identifizieren, um auf ihre Weise dieses männliche Herrschaftssystem verändern zu können. Denn nicht nur Männer, sondern auch der Staat und das Gesellschaftssystem bilden das Problem. Das patriarchale Herrschaftssystem ist überall, auf der Straße, in der Schule, im Arbeitsleben.
Viele Frauen denken deshalb sehr eng, sie denken nicht frei. Und um frei sein zu können, ist es nötig, frei denken zu können und den eigenen Willen zu kennen. Weil viele der Frauen das Denken des Systems verinnerlicht haben, ist Bildung notwendig, um frei denken und einen freien Willen ausdrücken
zu können. Ohne diese beiden Komponenten kann es kein freies Leben geben. An diesem Punkt wird auch die Lösung der Kurdenfrage thematisiert. Die Assimilation und Unterdrückung als Kurdin spielt eine ebenso wichtige Rolle in der eigenen Identitätsentwicklung. Es werden Kurdischkurse angeboten, denn die Muttersprache ist ein wichtiger Faktor. Wenn Menschen gezwungen werden sich in einer „fremden“ Sprache auszudrücken, die nicht ihre Muttersprache ist, wird ihr Denken und Fühlen eingeschränkt.
Viele Frauen können ihre Muttersprache nicht gut, sie haben Schwierigkeiten zu denken und ihre Gedanken zu äußern. Es ist ein Problem, sich nicht richtig ausdrücken zu können.
Mit der ökonomischen Unabhängigkeit und dem Aufbrechen der verinnerlichten Herrschaftsstrukturen, der Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen und Geschlechtsidentität und der Kompetenz, sich selbst auszudrücken, ist es für die Frauen möglich, eine eigene Identität zu entwickeln.
Ebenso beteiligen sie sich an politischen Kampagnen wie z. B. „Wir Frauen sind die Ehre von niemandem, unsere Ehre ist unsere Freiheit“ und an Projekten gegen Gewalt an Frauen,wie am 25. November, am 8. März, zu Newroz sowie zu tagespolitischen Themen.
Doch es geht nicht allein darum, sich gegen die ganzen Ungerechtigkeiten zu wehren. Sie wollen eine grundlegendere Änderung der patriarchalen Gesellschaft. Als Teil der Frauenbewegung verfolgen die Kooperativen das grundlegende Ziel: eine befreite Frau, eine freie Gesellschaft.
Ihre Arbeit basiert auf mehren Komponenten: dem Zusammenkommen, denn nur gemeinsam kann eine gesellschaftliche Veränderung erreicht werden; einem schöneren Leben, ohne Krieg, ohne das Töten von Menschen, ohne Gewalt als ein Ziel, das nur über die Befreiung der Frau erreicht werden kann – das alte Herrschaftsdenken muss verlassen werden. Ein freier Wille, freie Gedanken und Entschlossenheit sind die Grundlage, um ein freies, gemeinsames Leben entwickeln zu können.

... Schritt für Schritt ...
Freiraum, ökonomische Unabhängigkeit und die Stärkung der Frau – Was machen Frauenkooperativen für diese Ziele?
Wie Frauenkooperativen ihre Ziele im Rahmen ihrer Projekte umsetzen, zeigt sich am besten an einem konkreten Beispiel. Die Vanda Boştaniçi Kadın Kooperatifi gibt es seit 6 Jahren.
Ihr praktisches Ziel ist, dass sich Frauen weiterentwickeln, dass Frauen einen Ort haben, wo sie hingehen können, um einen Beruf zu erlernen, sie ökonomisch unabhängig werden und Geld verdienen können.
Zurzeit sind dort 10 Frauen als Lehrerinnen tätig. Sie organisieren sich kollektiv, jede erhält für ihre Arbeit gleichen Lohn und sie können ihre Kinder mit zur Arbeit bringen. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen und mindestens einmal monatlich sowie bei Problemen und Schwierigkeiten gibt es gemeinsame Plenen, um gemeinsame Lösungen zu entwickeln. Über 80 Frauen haben sich für Kurse angemeldet, ca. 40 nehmen derzeit Bildungsangebote wahr. Die Kooperative vereint in ihren Angeboten soziale Unterstützung, berufliche Ausbildung, Allgemeinbildung sowie Kultur. Sie orientiert sich an den verschiedensten Bedürfnissen der Frauen vor Ort. Eines ihrer wichtigsten Projekte ist ihr Waschhaus. Über 40 vor allem ärmere Familien, die sich keine Waschmaschine leisten können, nutzen die Möglichkeit, um ihre Kleidung waschen, bügeln und trocknen zu lassen. In der Schneiderei lernen zehn Schülerinnen Nähen und Sticken und bieten gleichzeitig die Möglichkeit, auf Bestellung Kleidung und andere Textilien anfertigen oder reparieren zu lassen.
Es gibt dort eine Brautausstattung, um Hochzeit und Aussteuer vorzubereiten, und es gibt einen Friseursalon, wo momentan zwei Schülerinnen den Friseurberuf erlernen. Die Ausbildungen dauern 6 Monate. Neben der beruflichen Bildung werden immer wieder allgemeinbildende Kurse angeboten wie z. B. Computer- und Alphabetisierungskurse in Türkisch und Kurdisch (mit aktuell 25 Teilnehmerinnen). Sie bieten
soziale Aktivitäten wie Kino, festliche Veranstaltungen und Theater – gemeinsam mit den Kindern und manchmal auch zusammen mit den Männern.
Sie haben noch weitere Wünsche und Projekte in Planung. Eines der größten Wünsche ist ein Frauenpark, damit Frauen einen Ort haben, wo sie draußen sitzen, mit den Kindern spielen und mit anderen Frauen reden können. So etwas gibt es in Wan bisher nicht. Ebenso wünschen sie sich eine Theatergruppe und eine Sportgruppe für junge Frauen. Es gibt viele Ideen, doch die meisten scheitern momentan noch an den
finanziellen Mitteln.
Ein wichtiges Standbein der Kooperative ist die regelmäßige Bildung für Frauen. Solche „Selbst-Kenntnis-Kurse“ beabsichtigen, dass Frauen sich selbst und ihre Situation kennenlernen, ihre Rolle in der Familie und in der Gesellschaft erkennen. Sie lernen, sich zu reflektieren und sich auszudrücken.
Dazu gehört ebenso ihr Verhältnis zum eigenen Körper. Sie lernen ihren Körper zu beschreiben und können, wenn sie krank sind und zum Arzt gehen, ihre Probleme genauer ausdrücken. Gesundheit ist ein wichtiges Thema; ein Arzt gibt einmal wöchentlich „Gesundheitskurse“. Auch das Bedürfnis nach psychologischer Unterstützung ist groß. Auch dafür gibt die Kooperative einen Ort, wo die Frauen hinkommen können.
Wenn Frauen ihre Probleme beschreiben, dann geht es meist um die Familie. Sie ist der Ort, an dem Unterdrückung am unmittelbarsten erlebt wird. Die Frauen müssen in ihrer Familie bleiben und sind finanziell von ihr abhängig. Die Männer verweigern den Frauen ihre Zustimmung, sich mit anderen Frauen zu treffen und das Haus zu verlassen. So wirken das Haus und die Familie manchmal wie ein Gefängnis.
Aus diesem Grund ist die Arbeit der Kooperative auch Stadtteilarbeit.
Sie gehen zu den Familien, um zu erreichen, dass die Frauen in die Kooperative kommen können.
Frauen haben viele Probleme. Um den Problemen zu entfliehen, bringen sich einige um. Es ist wichtig für die Psyche, einen Ort zu wissen, der neben den Kursen auch auf anderer Ebene psychologische Unterstützung bietet. Frauen mit ihren Problemen nicht allein zu lassen, sondern sie zu stärken und zu befähigen, ist ein Ziel der Arbeit. Deshalb ist die Kooperative für viele Frauen enorm wichtig.

„Patron olursa, sorunlar olur“
(Gibt es einen Chef, gibt es auch Probleme!)
Ein kollektives Restaurant in Diyarbakır. Entstanden aus einer Frauenkooperative. Das Firavîn ist ein ausschließlich von Frauen geführtes Restaurant. Es hat im Juli 2009 eröffnet und ist ein kollektives Projekt von 3 Frauen, die sich auf diesem Weg ein ökonomisch unabhängiges Leben organisieren.
Die 3 Frauen haben sich in der „Bağlar Kadın Kooperatifi“ kennengelernt. Dort hatten sie an Schulbildungskursen der Mittel- bzw. Oberschule teilgenommen, um einen Schulabschluss zu erreichen. Frauen, die aus unterschiedlichsten Gründen die Schule abbrechen mussten, werden dort u. a. von „freiwilligen“ Lehrern fit gemacht, um die Prüfungen zu bestehen. Sie alle haben dort das erlebt, was den Kern der Frauenkooperativen ausmacht. Sie haben neben ihrem Schulabschluss an verschiedenen Bildungsseminaren teilgenommen und konnten ihre Fähigkeiten stärken, Selbstvertrauen und Mut erlangen. Erst mit Unterstützung der Frauenkooperative – so sagen sie selbst – haben sie die Fähigkeiten und die Möglichkeit erhalten, ein Projekt, wie ihr Frauenrestaurant, auf die Beine zu stellen.
In der Frauenkooperative gab es ein Küchenprojekt, in dem sie mitgearbeitet hatten. Sie haben dort mit dem Verkauf von Backwaren und Börek angefangen. Später haben sie dort komplettes Essen vorbereitet z. B. für Empfänge und andere Events. Das lief sehr gut, aber es gab oft viel Arbeit und auf Dauer war dies mit den anderen Aktivitäten der Kooperative nicht mehr vereinbar. An diesem Punkt haben sie sich entschieden, zu dritt ein Frauenrestaurant (wo aber durchaus auch Männer als Gäste kommen können) zu eröffnen.
Jetzt arbeiten sie bereits seit sieben Monaten. Das Restaurant ist jeden Tag bis 17 Uhr geöffnet. Hauptsächlich bieten Sie Mittagessen an und beliefern Veranstaltungen. Das Essen ist vollständig handgefertigt und qualitativ hochwertig.
Sie teilen das Geld ebenso wie ihre Aufgaben und ihre Zeit. Gerade Letzteres ist wichtig, denn sie haben Kinder und müssen auch tagsüber ihren Verpflichtungen nachgehen können. Ihre Arbeitsstruktur macht dies für alle möglich. Es gibt keine Hierarchie, keinen Chef. Es ist besser, ohne Chef zu arbeiten, selbst Chefin und
Arbeiterin zu sein. Arbeiten ohne Chef macht zufrieden und sie mögen deshalb ihre Arbeit – auch wenn es nicht immer einfach ist, nicht immer ausreichend Gäste kommen. Aber wenn Gäste kommen und ihnen das Essen schmeckt, dann macht es ihnen Freude.
Sie möchten noch andere Filialen aufmachen, weil sie Frauen eine Möglichkeit bieten wollen, ökonomisch unabhängig zu sein. Frauen sollen eigenes Geld verdienen können und auf eigenen Füßen stehen. Wenn Frauen arbeiten, ändert dies ihre Position in der Familie. Die Frau ist freier und die Familie kann weniger Druck ausüben. Zusammengefasst sind die Ziele der Kooperativen die Stärkung und Unterstützung von Frauen. Ein freies gemeinsames Leben, das Teilen von Arbeit, von Geld ist ein Ziel. Eine Kooperative sollte dabei mehr beinhalten als eine andere unabhängige, ökonomische Organisationsform. Dies allein ist nicht ausreichend und löst nicht die wirklichen Probleme. Sie bleibt ein Teil der kapitalistischen Modernität. Kollektive Betriebe bleiben gefangen in den Widersprüchen des Kapitalismus. Sie bieten innerhalb des vorhandenen Gesellschaftssystems, auf individueller Ebene eine Lösung und damit für mehrere Individuen die Möglichkeit, ein freieres Leben zu führen. Auch wenn äußere Faktoren, wie der Zwang, Kinder ernähren zu müssen kaum eine andere Alternative bieten, entfernt sich dieser Weg von einer gemeinschaftlichen Lösung für alle und ist damit kein Lösungsansatz für die Frauenkooperativen. Sie wollen für alle ein alternatives Leben unabhängig von Kapitalismus und Patriarchat erreichen.
Schritt für Schritt!